Von der Endlichkeit
Viele Menschen gehen mit ihrer Lebenszeit um, als sei sie ein nachwachsender Rohstoff.
Mir kommt eine Filmszene in den Sinn: Eine junge Frau hält einem älteren Mann ein Maßband vor die Nase. Jeder Zentimeter eine Markierung. Zwei Meter Länge, zweihundert Zentimeter.
Sie will ihrem Gegenüber klar machen, wie wenig von seinem Leben ihm theoretisch noch bleibt.
Deshalb fragt sie ihn: »Wie alt wird ein Mann deines Jahrganges durchschnittlich?«
Der Mann zuckt mit den Achseln.
»Er wird sechsundsiebzig Jahre alt«, beantwortet die Frau ihre Frage selbst und schneidet vor den Augen des Mannes von dem zwei Meter langen Maßband mit einer Schere einhundertvier- undzwanzig Zentimeter ab.
Jetzt hält sie ihm die verbleibenden sechsundsiebzig Zentimeter vor Augen und fragt: »Wie alt bist du?«
»Ich bin neunundfünfzig«, antwortet dieser und ahnt schon, was jetzt kommt.
Die Frau nimmt die Schere und schneidet von den noch vorhandenen sechsundsiebzig Zentimetern Maßband weitere neunundfünfzig Zentimeter ab.
Jetzt hält sie ihm die letzten siebzehn Zentimeter vor die Nase. »Das ist der Rest!«
Aus meinem Buch „Ein Mann, ein Meer“ erschienen im bene! Verlag / Droemerknaur.